MARKTKOMMENTAR
Dezember 2025
Europa steht vor einer strukturellen Neuordnung: Klimapolitik, Energiepreise und industrielle Wettbewerbsfähigkeit greifen eng ineinander. Der Rat der EU hat Anfang November ein verbindliches Zwischenziel für 2040 beschlossen: −90 % Netto-Treibhausgase gegenüber 1990. Das Parlament muss noch zustimmen. Parallel enthält der Rahmen neue Regeln für internationale CO₂-Zertifikate ab 2036, die formale Anrechnung dauerhafter CO₂-Entnahmen (z. B. CCS) und stärkere Flexibilitätsoptionen zwischen Sektoren. Eine zweijährliche Überprüfung soll das Ziel an wissenschaftliche und technologische Entwicklungen koppeln.
Die Kommission meldet Fortschritte: 2024 sanken die Emissionen um 2,5 % gegenüber 2023; die Nettoemissionen liegen deutlich unter dem Niveau von 1990, während das BIP deutlich gewachsen ist. Diese Entkopplung ist positiv, doch bleibt offen, in welchem Umfang Emissionsreduktionen auf reale technische Fortschritte statt auf rückläufige industrielle Aktivität zurückgehen.
Der Clean Industrial Deal (CID) ist die zentrale Schnittstelle zwischen politischem Ziel und industrieller Praxis. Er fokussiert auf drei Kernziele: leistbare Energie, Beschleunigung von Schlüsseltechnologien (z. B. Batterien, Wärmepumpen) und Erhöhung der Kreislaufwirtschaftsquote. Operativ ergänzt der CID den Beihilferahmen CISAF, der Mitgliedstaaten gezielte Unterstützung zur Elektrifizierung ermöglicht. Das ist politisch bedeutsam, aber der Deal bleibt in mehrfacher Hinsicht lückenhaft: Er setzt keine verbindlichen Einsparziele bei Energie oder Ressourcen, priorisiert nicht eindeutig skalierbare Technologien und birgt das Risiko, neue Industriezweige vor allem per Subventionen zu schaffen statt durch wettbewerbsfähige Kostenstrukturen.
Die Marktrealität verstärkt die Herausforderungen. Seit 2005 sind fossile Energieträger real günstiger geworden (Gas etwa −15 %, Öl ~−30 %), während Strom real um etwa 10–15 % teurer wurde. Treiber sind vorrangig CO₂-Kosten; zusätzlich wirken Netzentgelte und sonstige Nebenkosten inflationstreibend. Stark regional divergierende Strompreise (Frontjahr-Spanne West ↔ Ost ~200 %) spiegeln unterschiedliche Erzeugungsmixe: Spanien profitiert von Wind/Solar, Frankreich von Kernenergie, Polen leidet unter hoher CO₂-Intensität. Österreich und Deutschland liegen dazwischen und fungieren als Transit- bzw. Verteilerregionen.
Politische Maßnahmen wie die Abschöpfung von Produzentenrenten (Österreich: Energiekrisenbeitrag ab 90 EUR/MWh) bieten begrenzte fiskalische Hebel, da bei aktuellen Terminmärkten kaum Überschüsse anfallen. CISAF eröffnet zwar Handlungsspielräume; die ungleiche fiskalische Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten (Deutschland/Belgien vs. ärmere Länder) droht jedoch, neue Wettbewerbsverzerrungen und Produktionsverlagerungen innerhalb der EU zu erzeugen.
Für Industrie und Politik folgen daraus drei praktische Schlussfolgerungen: Erstens sollten Fördermittel klar auf bereits skalierbare, kostensenkende Technologien konzentriert werden, um Hebeleffekte zu erzeugen. Zweitens ist eine stärkere EU-Harmonisierung der CISAF-Anwendungsregeln nötig, um Marktverzerrungen zu begrenzen. Drittens sind strukturpolitische Investitionen — Netzausbau, Speicher, Lastmanagement — ökonomisch vorrangig vor kurzfristigen Subventionen, weil sie dauerhaft die Vollkosten senken.
Ohne diese Schwerpunktsetzung bleibt das Risiko hoch, dass Dekarbonisierung eher durch industrielle Schrumpfung als durch nachhaltige Innovationsdynamik erreicht wird — ökonomisch ineffizient und klimapolitisch fragwürdig. Der CID kann einen Rahmen liefern; ob er Europas Industrie wettbewerbsfähig und klimakompatibel macht, entscheidet sich an der Umsetzung: Priorisierung skalierbarer Technologien, koordinierte Förderlogik und strukturelle Infrastrukturinvestitionen.
Sowohl in Deutschland als auch in Österreich erlebten die Spotpreise ihren drittteuersten Monat des Jahres. Mit 116 EUR/MWh in AT und 101 EUR/MWh in DE erreichten die Niveaus die teuren Wintermonate Januar/Februar. Der preisdämpfende PV-Sommerherbst ist vorbei; die teure Stromproduktion wird wieder stärker von fossilen Erzeugern getragen, nur tageweise durch Wind abgeschwächt. Bei Windflauten bleiben die Preise hoch. Ein Blick auf die letzte Novemberwoche: Die Winderzeugung lag 17 % unter Norm, PV 10 % darunter; die kombinierte Wind-/PV-Produktion betrug 3,5 TWh — rund 0,7 TWh unter der Norm. Gleichzeitig war das Temperaturniveau in Deutschland unter Normalwerten, was die Nachfrage um etwa 1 GW (+1,7 %) anhob. Zusammenspiel von reduziertem Angebot und erhöhter Nachfrage erzeugte marktwirtschaftlich hohe Preise.
Am Terminmarkt zeigt sich eine zweigeteilte Dynamik: Kurzfristig (Frontjahr, Cal-26) bleibt eine Seitwärtsbewegung intakt; langfristig zieht das Cal-28 in einem deutlichen Aufwärtskanal und erreichte Ende November den höchsten Stand seit über zwei Jahren. Diese Divergenz lässt sich nicht aus den Gaspreisen erklären — am TTF notiert Cal-28 auf dem niedrigsten Stand seit März 2022 — wohl aber durch den starken Einfluss des CO₂-Preises, der im November deutlich über 80 EUR/t stieg und so Long-Positionen im Strom befeuerte. Mit sinkenden Gas- und steigenden CO₂-Preisen könnten effiziente Gaskraftwerke Kohlekraft in der Merit Order verdrängen und längerfristig Baseload anbieten; zugleich bleibt für Spitzenlast oft Kohle erforderlich, die die Preise hochhält.
Im Gas bleibt die Marktstimmung bearish: LNG-Zuflüsse und norwegische Exporte sind robust, niedrigere Speicherstände als im Vorjahr erzeugen aktuell keinen strukturellen Aufwärtsdruck. Das Unterschreiten der 30-EUR-Marke wirkte geopolitisch bzw. hoffnungsgetrieben — Nachrichten über mögliche Fortschritte in Vermittlungsverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine beeinflussten die Stimmung stärker als fundamentale Indikatoren. Kurz: Fundamentale Versorgungslage stabil bis komfortabel, politikorientierte Schlagzeilen bleiben aber Preis-Treiber.
Unter dem Weihnachtsbaum ruhen Geschenke der Unsicherheit: Weder Spot- noch Terminmarkt liefern am Strommarkt eindeutige Geschenke. Der Dezember wird kaum massiv vom rund 100-EUR/MWh-Schnitt der letzten beiden Monate abweichen. Die Feiertage bringen zwar strukturelle Entspannung, aber keine Nachhaltigkeit – weder für niedrige Spotpreise noch für niedrige Umweltbelastung durch die Vielzahl an überschüssigen Geschenken. Im Termingeschäft bleiben zwei Fragen offen: Wie tief kann der Gaspreis noch fallen? Und wann übersetzt sich dessen Abwärtsdrang in niedrigere Stromterminpreise? Die Erfahrungswerte von 2022 zeigen, dass Gas noch weiter sinken kann, und aktuell spricht das stabile Angebot für weiteren Druck nach unten. Politische Verhandlungen können das Bild jedoch schnell drehen. Parallel dazu zieht der CO₂-Preis kräftig an und steuert zunehmend die Strompreisentwicklung. Summa summarum: Gas drückt, CO₂ zieht — Strom findet so einen seitwärtigen Ausgleich.
Weihnachtlich gesprochen: Die Lichter am Markt flackern, aber sie verlöschen nicht — sie markieren den Weg. Entscheidend bleibt, ob Politik und Industrie in den kommenden Monaten jene Infrastruktur- und Förderentscheidungen treffen, die das Flackern in ein nachhaltiges Leuchten verwandeln.
Ihr Felix Diwok
Für das Team der Inercomp