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Marktkommentar

Juli 2024

Preis-Chaos an der Strombörse“ – so oder so ähnlich titulierten fast alle Medien die Ereignisse vom 25.06.24. Die Faktenlage ist folgende: an besagtem Tag hat die Börse für den Day-Ahead-Strom-Spothandel (EPEX Spot) nie gesehene Extrempreise auktioniert. Unglaubliche 236,28 EUR/MWh für Österreich und 492,04 EUR/MWh für Deutschland standen zum Tagesende in den Büchern. Zwar können Preisvolatilitäten durch Angebot und Nachfrage jederzeit stattfinden. In diesem Fall ist die Ursache jedoch anderer Art und historisch: Es gab erstmals 2 verschiedene Preise jeweils für DE und AT.

Was war geschehen? Vorab: Angebot und Nachfrage erklären die Preisverwerfungen NICHT. Außerdem erstaunlich: Neben den „Extrempreisen“ gibt es „Normalpreise“ (Base AT: 95,39 EUR/MWh; Base DE: 103,01 EUR/MWh) für den betroffenen Tag unter Berücksichtigung der physischen Transportkapazitäten. Diese ergeben sich aus der gekoppelten Market Coupling Auction und wurden an den Strombörsen Nordpool und EXAA auktioniert. Im Normalfall sind diese gekoppelten Ergebnisse identisch mit den Preisen an der EPEX Spot. Da die EPEX Spot aufgrund technischer Probleme nicht an der gekoppelten Auktion teilnehmen konnte, gibt es für den betroffenen Liefertag ausnahmsweise zwei unterschiedliche Day-Ahead-Preise (1. gekoppelt bei EXAA und Nordpool = „Normalpreise“ und 2. EPEX lokal = „Extrempreise“). Da die meisten Stromlieferverträge, historisch gewachsen, nicht auf den gekoppelten Market Coupling Preis verweisen, sondern allein auf den EPEX Spot Preis, ist dieser Preis für die meisten Endverbraucher schlagend. Zusammenfassend: nicht Angebot und Nachfrage waren für die Preisverwerfungen ausschlaggebend, sondern technische Probleme bezüglich der Orderlage der lokalen, nicht gekoppelten Abwicklung der EPEX Spot.

Lessons learned: Was uns dieser Tag gezeigt hat, ist, dass eine europäische gekoppelte Auktion eine wichtige und wesentliche Grundlage für die Preisbildung ist. Technische Probleme können immer auftreten, über die gekoppelte Auktion ist die Preisbildung stabiler. Ein zweiter Börsenzugang ist für Handelsteilnehmer sinnvoll, um in solchen Fällen die Möglichkeit zu haben über eine andere Börse an der gekoppelten Auktion teilzunehmen

Bis auf solch nicht vorhersehbare Ereignisse, die uns als Teil der Glaskugel in der Energiemarktanalyse stets verborgen bleiben, hat sich an den Fundamentaldaten der europäischen Energiepreise im Monatsvergleich nicht viel geändert. Die Daten prognostizieren für die meisten Länder Europas Strom- und Gas-Preise, die in diesem Sommer tiefer sind als 2023. Wirtschaft und Energieverbrauch erfahren nur einen moderaten Anstieg, der durch das anhaltende Wachstum der erneuerbaren Energien überkompensiert wird. Einzig in Polen dürfte der Verbrauchszuwachs größer ausfallen als der Zubau an Erneuerbaren. Der Erneuerbaren-Ausbau übersteigt somit die nach Pandemie und Inflation langsam wachsende Nachfrage, was nach klassischer Marktlogik die Preise drückt

Blicken wir auf die Nachfragentwicklung im Detail. Nach Korrektur der Ist-Nachfrage um den Temperatureffekt haben wir in ganz Europa starke Abweichungen von den Normalwerten vor der Krise gesehen, bisher lag die Nachfrage klar im Minus. Frische Zahlen vom ersten Halbjahr 2024 zeigen ein fortsetzend stagnierendes Bild: im Vergleich zum ersten Halbjahr 2023 ist sowohl die Stromnachfrage in Deutschland und auch im gesamten EU-Raum um ca. 1% angestiegen. Während die Wachstumsraten in Frankreich schwach aussehen und in Österreich für 2024 mit Raten um die 0% (nach Angaben des Wifo-Instituts) von Expansion keine Rede sein kann, ist die Lage optimistischer in Deutschland und Großbritannien, das durch Elektrifizierung getrieben ist. Dazu passt auch der „Euro Area Manufacturing PMI“, dessen Juni-Wert ein verschlechtertes Stimmungsbild zeichnet.

Zur Preisentwicklung: Eine gute Gasangebotslage sorgte von 2023 bis Ende Februar 2024 für eine langfristige Abwärtstendenz, die im März umgeschlagen ist, denn das niedrige Preisniveau führte zum Auffüllen einiger CO2-Short-Positionen. Die dann folgende eher von Psychologie und Geopolitik getriebene Aufwärtsbewegung hat inzwischen ein Ende gefunden und der Juni entwickelte sich abwärts- bzw. seitwärtslaufend. Der Markt wartet auf neue Impulse. Oder hat sich schon die Sommer-/Ferienzeit angekündigt? Ferienzeit wird klipp und klar auch den Juli prägen, Handelsvolumina fallen weiter. Im Strom hat sich Ruhe eingestellt, der Preis verläuft moderat. Ähnliche Aussichten gibt es für den Juli, insofern nichts Unvorhergesehenes passiert. Im Generellen beschleicht viele Expertinnen das Gefühl, dass in den letzten Wochen die Fundamentaldaten wieder stärker wirken und diese sehen bearish aus.

Hohe Speicherfüllstände, eine Normalisierung der norwegischen Lieferungen und reduzierte Nachfrage haben auch im Gas einen gedämpften Preisantrieb zur Folge. Der Gaspreis als letzte Merit-Order-Kraftwerksressource ist weiterhin dominant für die Preisbildung am Strommarkt., da die fossilen Anlagen nach Kernenergieausstieg Deutschlands und bei geringer Verfügbarkeit der französischen AKW zu Knappheit führen, wenn die Erneuerbaren nicht produzieren.

Apropos Erneuerbare. Die Energiekrise in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine hat einen anhaltenden Boom beim PV-Angebot gebracht. Die Erneuerbaren-Stromerzeugung hat im ersten 2024er-Halbjahr in Deutschland um 8% zugelegt, EU-weit sogar um 13%. Der erwartete Mehrverbrauch aus dem moderaten Nachfrageanstieg der Big6-Länder (DE, UK, FR, PL, SP, IT) beträgt 16 TWh und könnte daher allein durch 16 TWh Solarüberschuss gedeckt werden, was eine rückläufige Entwicklung der Residuallast für die Big6 im Vergleich zum Sommer bedeuten würde. Die Erneuerbaren (über)kompensieren den steigenden Energiehunger – mit spannenden Folgen für die Strompreisbildung.

Denn der massive Ausbau führt zu mehr Stunden mit niedrigen oder negativen Spotpreisen. Ein Beispiel? In Österreich gab es in den letzten 10 Jahren durchschnittlich 90 negative Day-Ahead-Preise pro Jahr. 2024 sind es nach einem halben Jahr bereits 187 negative Stunden. Damit kannibalisieren PV-Anlagen nicht nur ihren eigenen Erlös, sie haben auch die systematische Abschaltung von bspw. Laufwasserkraftwerken zur Folge. Die äußerst niedrigen Preise drücken zudem ein unangenehmes Detail der fundamentalen Situation aus: Wir haben zu viel Stromerzeugung insbesondere zur Tagesmitte. Nun kann entweder die Erzeugung mit Abschaltung reagieren oder aber sich die Verbrauchsseite an die neue Situation anpassen. Uns fehlen zusätzliche, flexible Verbrauchseinheiten – am besten welche, die die Dekarbonisierung in anderen Sektoren vorantreiben: E-Autos, Batteriespeicher, Power2Heat-Anlagen, Elektrolyseure und Wärmepumpen. Aber ähnlich wie die Errichtung von Windkraftanlagen oder die Erschließung von neuen Erdgasfelder braucht die Errichtung der verbrauchsseitigen Anlagen mit technischer Planung, Genehmigungen und der Finanzierung viel Zeit und Vorlauf. Im Endeffekt läuft es auf ein Rennen hinaus zwischen dem Ausbau weiterer Erneuerbaren Erzeugungsanlagen und dem Ausbau neuer Verbrauchseinheiten. Infolge des starken PV-Ausbaus ist es unwahrscheinlich, dass wir nächsten Frühling weniger Nullstunden als aktuell sehen werden. Das kann aber auch positiv sein: In der Vergangenheit war der Stromeinsatz zur Sektorkopplung mit den zuvor erwähnten Anlagen sehr teuer. Mit der Zunahme günstiger Stromstunden werden Investitionen in diese für die Dekarbonisierung wichtigen Assets immer profitabler.

Für diesen Sommer erwarten wir rein analytisch niedrige Preise, wobei deutliche Preisreduktionen nicht zu erwarten sind, ist doch die geopolitische Gefahrenlage zu risikobehaftet und die Preisbildung zu signifikantem Teil psychologischer Natur. Wir hoffen, dass dieser Ausblick bei Ihren Entscheidungen hilft.

 

Ihr Felix Diwok, CEO

Für das Team der INERCOMP

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